Kommentar zur 4. Stellungnahme der Regierungskommission

Berlin, 01.03.2023

Die “Aktion Notaufnahmen retten” war im September 2022 von der Regierungskommission als Expert:innen eingeladen worden.
Wir begrüßen die vierte Stellungnahme ausdrücklich, da die Notwendigkeit zur Umstrukturierung der Akut- und Notfallversorgung in Deutschland deutlich geworden ist. Besonders die Einführung einer verbindlichen Personalbemessung für die Notaufnahmen ist ein wichtiges Ziel, das auch in den Vorschlägen der Kommission zu finden ist. 

Die Empfehlungen der Kommission machen deutlich, dass die dringendsten Problemlagen erkannt worden sind. Aktuell treffen zu viele Patient:innen auf unzureichende Versorgungsstrukturen, die weder personell noch räumlich oder strukturell für diese Auslastung ausgelegt sind. Die Kommission schlägt nicht nur den Ausbau der vorhandenen Strukturen vor, sondern auch eine tiefgreifende Umstrukturierung. Wir nennen hier die für uns wichtigsten Punkte und kommentieren diese.

1. Integrierten Notfallzentren (INZ) an allen Level II und III Krankenhäusern

Ein INZ vereint eine bestehende Notaufnahme mit einer KV Arztpraxis. Der Zugang wird über einen gemeinsamen Tresen gesteuert. An diesem werden die Patient:innen nach Dringlichkeit und Erkrankungsschwere dem passenden Versorgungspfad zugeordnet. Diesem Vorschlag stimmen wir zu, wenn das INZ folgende Standards erfüllt:

  • Das INZ wird vom Leiter der Notaufnahme koordiniert.
  • Der gemeinsame Tresen wird durch eine Fachkraft für Akut- und Notfallmedizin besetzt. Er ist 24/7 erreichbar.
  • Die Ersteinschätzung am Tresen erfolgt durch ein validiertes Ersteinschätzungsinstrument (z.B. MTS) und durch geschultes medizinisches Fachpersonal.
  • Die KV Arztpraxis hat die gleichen Öffnungszeiten (24/7) wie die angeschlossene Notaufnahme, um zusätzliche Personalbindung und Risiken durch Übergabe der Patient:innen zu vermeiden.
  • Die von der Kommission vorgeschlagenen Öffnungszeiten an Level II Krankenhäusern Mo-Fr 14:00 Uhr bis 22:00 Uhr und Sa-So 09:00 Uhr bis 21:00 Uhr lehnen wir ab. Die Übergabezeiten um 14:00 Uhr und 22:00 Uhr liegen in hochferquentierten Zeiten in der ZNA. Hier wird eine zusätzliche Belastung für das Personal der ZNA geschaffen, die Patient:innenen aus der KV Praxis übernehmen muss, bzw. die Übergabe an die KV Praxis umsetzen muss
  • Das Personal der KV Arztpraxis muss zusätzlich zum Personalschlüssel der Notaufnahme berechnet werden. Die KV muss eigenes, ausreichend qualifiziertes Personal für den Betrieb der Praxis stellen. 
  • Die KV Arztpraxis muss personell, fachlich und strukturell in der Lage sein, Notfallpatient:innen mit einer geringen Dringlichkeit versorgen zu können. Hierzu zählen mindestens folgende Fähigkeiten:
  • EKG anfertigen und auswerten (eigenes Material)
  • Zugang zu Labor
  • Zugang Röntgen
  • Sonografie (eigenes Material)

2. Einrichtung einer Integrierten Leitstelle (ILS)

Die beiden Notrufnummern 112 und 116117 werden gemeinsam in einer integrierten Leitstelle bearbeitet. Jede*r Patient*in soll sich zunächst dort melden, bevor sie/er eine Notaufnahme aufsucht. Die ILS entscheidet über die Dringlichkeit und ordnet den richtigen Behandlungspfad zu. Dies kann auch eine ambulante Praxis sein. 

A:NR begrüßt diese Entscheidung. Eine bessere Steuerung der Patient:innen ist dringend notwendig, um die knappen Ressourcen sinnvoll einsetzen zu können. Wir geben jedoch zu bedenken, dass nicht nur die Behandlungsdringlichkeit, sondern auch die generelle Mobilität der Patient:innen den passenden Behandlungspfad beeinflussen. Gerade immobile Patient:innen benötigen auch bei geringer Behandlungsdringlichkeit die Strukturen einer Notaufnahme, da nur wenige ambulante Praxen diese Patient:innen versorgen können. 

Damit dieses System eine spürbare Erleichterung bringt, wären diese Standards unserer Ansicht nach sinnvoll:

  • Digitalisierung des ambulanten Sektors, insbesondere bei der Terminvergabe. Die ILS muss Zugriff auf freie Zeiträume im gesamten Praxisnetz haben.
  • Bidirektionale Kommunikation zwischen der ILS, den Rettungsdiensten und den Notaufnahmen. Die Verfügbarkeiten von kritischen Infrastrukturen, sowie die generelle Auslastung der Notaufnahme muss für die Leitstelle einsehbar sein, damit die Verteilung der Patient*innen effizient erfolgen kann.
  • Die Ersteinschätzung erfolgt durch  qualifiziertes Fachpersonal mit Hilfe eines validierten Ersteinschätzungsinstrument (z.B. MTS für Telefontriage).

Den Aufbau einer “pflegerischen Notfallversorgung” (Seite 15 Punkt 8), die über die ILS kontaktiert werden kann, begrüßen wir ausdrücklich. 

3. Personalbemessung

Die Einführung einer verbindlichen Personaluntergrenze in der Pflege begrüßen wir ausdrücklich. Hier rät die Kommission eine Berechnung von 1.200 Fällen pro Vollzeitkraft im Jahr. 

Diese erachten wir als sinnvoll. Durch die Einführung der INZ wird es zu strukturellen Veränderungen und zu Veränderungen des Patient*innenklientels in den Notaufnahmen kommen, das durch einen erhöhten durchschnittlichen medizinischen Betreuungsbedarf gekennzeichnet sein wird.

Inwieweit diese Berechnung (aus dem Jahr 2019 ) in dem Fall noch ausreichend sein wird, müsste von der DGINA überprüft und ggf. angepasst werden. 

Wir plädieren zudem dafür, dass sich die Personalbemessung an den Patient*innenkontakten und nicht den Fallzahlen orientiert und regelmäßig evaluiert wird.  

Leider fehlt derzeit noch ein systematisches Vorgehen, wenn die angestrebten Personaluntergrenzen nicht eingehalten werden können. Wir schlagen die Rückzahlung der Vorhaltepauschale für alle Zeiträume vor, in denen die Personaluntergrenze nicht eingehalten werden konnte. Außerdem fehlt derzeit noch ein Vorschlag für die Berechnung der Personalbemessung auf ärztlicher Seite. Da auch das ärztliche Personal ausreichend vorhanden sein muss, sollte dieser Punkt unbedingt noch aufgegriffen werden 

4. Finanzierung

Die Einführung einer 60% Vorhaltepauschale begrüßen wir ausdrücklich. Die Einführung von zeitlich abhängigen Vergütungen (2. Stellungnahme) sehen wir jedoch kritisch. Diese sieht vor, dass je länger die Patient:innen in der Notaufnahme verweilen, die Vergütung ansteigen soll. Wir sehen hier einen klaren Fehlanreiz. 

Wir fordern eine Kombination aus bedarfs- und leistungsabhängiger Finanzierung. Wir unterstützen den Vorschlag der Regierungskommission Lauterbach, eine 60%ige Vorhaltepauschale einzuführen. Diese sollte jedoch um eine leistungsabhängige Komponente ergänzt werden. Die Einführung von speziellen OPS Codes für die Notaufnahmen erachten wir als wichtig. Weiterhin sollte die Eintreffzeit der Patient:in berücksichtigt werden. Da Personalkosten an Wochenenden, Feiertagen und nachts steigen, muss sich dies ebenfalls bei der Abrechnung der Kosten widerspiegeln. Die Vorhaltepauschale sollte nicht an einem fest definierten Zeitraum bemessen werden, sondern jedem behandelten Fall addiert werden. 

5. Abmeldung der Notaufnahme

Auf Seite 21 Punkt 24 werden Sanktionen in Form von Ausgleichszahlungen der Krankenhäuser angedroht, für jede Stunde, die eine Notaufnahme sich von der Annahme von Hilfesuchenden abmeldet. Eine Abmeldung der Notaufnahme ist immer das Mittel der letzten Wahl und wird auch aktuell nur zur Abwehr von Gefahr für die Patient:innen durchgeführt. Wenn kritische Infrastrukturen wie CT, Röntgen, Linksherzkatheterlabor, Stroke Unit oder Schockraum ausfallen, oder wegen plötzlichem Personalausfall nicht besetzt werden können, ist dies höhere Gewalt und sollte nicht sanktioniert werden.

Ebenso ist die vollständige Überlastung der Notaufnahme ein Grund, die Abmeldung bei der zuständigen Leitstelle zu melden. Hier werden Fehlanreize gesetzt, auch dann noch Rettungsmittel anzunehmen, wenn eine leitliniengerechte Versorgung der Patient:innen nicht mehr gewährleistet ist. 

Wir kritisieren diesen Vorstoß und fordern eine Einschränkung der Sanktion, die die oben genannten und berechtigten Gründe berücksichtigt.

6. Einstufung der Notaufnahmen als pflegesensitiver Bereich

Für den stationären Bereich werden die Pflegepersonalkosten als Folge der Änderung im Pflegepersonalstärkungsgesetzes (PpSG) über ein krankenhausindividuelles Pflegebudget nach dem Selbstkostendeckungsprinzip finanziert. Der Bereich der Notaufnahmen fällt nicht unter diese Regelung. Aus unserer Sicht erscheint es notwendig, auch die Notaufnahmen den pflegesensitiven Bereichen zuzuordnen.
Die unternehmerische Unsicherheit der Kostendeckung wäre reduziert und das Konstrukt der Personalbemessung und Vorhaltepauschalen besser abgesichert. Die Einstufung der Notaufnahmen als pflegesensitive Bereiche ist nicht Teil der Vorschläge der Kommission. 

Link zur Stellungnahme der Regierungskommission

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Link zur Stellungnahme der DGINA